Veröffentlichungen von Urmila Goel
erschienen in: Meine Welt, 22/2, 11-13 (Text als pdf).
Eine Zugfahrt durch die brandenburgische Provinz kann sich hinziehen. Da bleibt
viel Zeit zum Reden. Irgendwann sind wir dann auch – wie sollte es anders sein -
beim Thema Indien angekommen. Mein Begleiter, wie ich Kind eines Inders und
einer Deutschen, fragte mich, was es eigentlich mit dem roten Punkt auf der
Stirn auf sich hat. Immer wieder werde er das gefragt, könne aber leider nicht
mit Expertenwissen prahlen. Ein typischer Fall: Die Leute glauben, weil man
einen indischen Elternteil hat, weiß man auch Bescheid über Indien. Nur woher
soll man das? Mein Begleiter, wie die meisten InderInnen der zweiten Generation
in Deutschland, ist hier aufgewachsen, hat hier die Schule besucht und weiß nur
wenig mehr über Indien als andere, die hier aufgewachsen sind.
Die Frage nach der Bedeutung des roten Punktes ist ein Paradebeispiel für eine
Grunderfahrung der zweiten Generation InderInnen in Deutschland: die des
doppelten Andersseins. Gestellt wird einem/einer die Frage, weil man mit Indien
in Verbindung gebracht wird, als jemand mit biographisch/ biologisch bedingtem
ExpertInnenwissen über dieses Land. Man ist also anders als andere in
Deutschland, kann ihnen Auskunft geben. Daran dass man die Frage aber nicht
einfach beantworten kann, weil man das Wissen über Indien eben nicht einfach so
hat, erfährt man das zweite Anderssein. Wäre man tatsächlich eng mit dem Land
Indien verbunden, hätte man dort gewohnt, wäre dort sozialisiert, so wie die
eigenen Eltern, dann könnte man auf die Frage antworten.
Dieses doppelte Anderssein nimmt der Psychologe und Pädagoge Paul Mecheril
gemeinsam mit Thomas Teo 1994 als Ausgangspunkt für das von ihnen entwickelte
Konzept der „Anderen Deutschen“. Mecheril und Teo definieren Deutsche als jene
Menschen, die in Deutschland sozialisiert wurden und hier ihren
Lebensmittelpunkt haben. Deutschsein ist damit für Mecheril und Teo völlig
unabhängig von Staatsbürgerschaft, Abstammung, Herkunft der Eltern oder
„Kultur“, was immer das sein mag. Die „Anderen Deutschen“ sind anders, und zwar
doppelt anders im oben beschriebenen Sinne. Sie sind anders bzw. werden als
anders wahrgenommen als die Mehrheitsbevölkerung in Deutschland und als die
MigrantInnen.
Während die Leserin in dem Sammelband „Andere Deutsche“ von 1994 noch den
Eindruck bekommen kann, dass „Andere Deutsche“ tatsächlich anders sind, also der
Eindruck der Anderen richtig ist, entwickelt Mecheril in dem 1997 wieder
gemeinsam mit Teo herausgegebenen Sammelband „Psychologie und Rassismus“ das
Konzept weiter und definiert „Andere Deutsche“ wie folgt:
„Menschen, die wesentliche Teile ihrer Sozialisation in Deutschland absolviert
haben und die Erfahrung gemacht haben und machen, aufgrund sozialer oder
physiognomischer Merkmale nicht dem fiktiven Idealtyp des oder der
„Standard-Deutschen“ zu entsprechen, weil ihre Eltern oder nur ein Elternteil
oder ihre Vorfahren als aus einem anderen Kulturkreis stammend betrachtet
werden“. (Mecheril 1997, 177)
Jeder Teil dieser äußerst exakt formulierten Definition ist wichtig. Es geht
Mecheril, um „Menschen, die wesentliche Teile ihrer Sozialisation in Deutschland
absolviert haben“. Das heißt „Andere Deutsche“ sind zwar nicht unbedingt in
Deutschland geboren, aber haben doch zumindest einen Großteil ihrer Kindheit und
Jugend hier verbracht, sind durch das deutsche Bildungssystem gegangen, kennen
dieses Land am besten. Sie sind nach Mecherils Definition Deutsche.
Aber sie haben „die Erfahrung gemacht ... und machen [sie weiterhin, ug],
aufgrund sozialer oder physiognomischer Merkmale nicht dem fiktiven Idealtyp des
oder der „Standard-Deutschen“ zu entsprechen“. Hierin verbinden sich mehrere
Aussagen. „Andere Deutsche“ machen die Erfahrung, als anders gesehen zu werden.
Es geht also nicht um die Absicht der Anderen, sondern um das eigene Erleben,
die subjektive Erfahrung. Das Anderssein macht sich fest in der Abweichung von
einem fiktiven Idealtyps eines „Standard-Deutschen“. Auch hier ist Mecheril
wieder sehr vorsichtig in seiner Wortwahl. Er unterstellt damit nicht, dass es
einen Standard-Deutschen tatsächlich gibt. Im Gegenteil in seinen Schriften sagt
er immer wieder, dass es diesen nicht gibt. Aber es gibt ein ideales Bild eines
Deutschen, das in den Köpfen steckt und von diesem Bild weichen die „Anderen
Deutschen“ ab. Sie tun dies aufgrund von sozialen oder physiognomischen
Merkmalen, dass heißt weil sie irgendwie anders aussehen oder sich anders
verhalten. Bei InderInnen der zweiten Generation sind diese Abweichungen häufig
die Hautfarbe oder der Name, manchmal auch die Religionszugehörigkeit oder
bestimmte familiäre Normen.
Da es „Standard-Deutsche“ nicht gibt, weichen eigentlich alle „Deutschen“ von
diesem Idealtyp ab und wären damit also „Andere Deutsche“. Damit würde das
Konzept aber nicht analytisch hilfreich sein, daher spezifiziert Mecheril es
weiter. Er hält es generell für all jene Gruppen anwendbar, die aufgrund ihrer
Abweichung diskriminiert werden, so wie zum Beispiel Homosexuelle oder
Behinderte. Da es in dem Sammelband 1997 aber ganz speziell um Rassismus geht,
schränkt er die Definition von „Anderen Deutschen“ auf jene Menschen ein, die
als anders gesehen werden, „weil ihre Eltern oder nur ein Elternteil oder ihre
Vorfahren als aus einem anderen Kulturkreis stammend betrachtet werden“. Auch
hier ist wieder die genaue Wortwahl von Mecheril zu beachten. Er sagt nicht,
dass die Vorfahren tatsächlich von woanders stammen, sondern dass Andere dies
unterstellen. So gibt es zum Beispiel Schwarze Deutsche, deren Vorfahren seit
mehreren Generationen schon in Deutschland geboren wurden, die aufgrund ihrer
Hautfarbe, aber immer noch als fremd angesehen werden.
Mein Begleiter in dem brandenburgischen Zug fällt in diese Kategorie „Andere
Deutsche“. Sein Haut ist etwas dunkler als die des fiktiven
„Standard-Deutschen“, sein Name hört sich nicht „deutsch“ an. Da liegt die
Vermutung nahe, dass seine Vorfahren von woanders sind. Immer wieder macht er
diese Erfahrung, die meisten tippen allerdings nicht auf Indien. So indisch
sieht er wohl nicht auf. Wenn er aber die Herkunft seines Vaters verrät, dann
wird er auch nach Indien befragt. Dreimal ist er in das Herkunftsland seines
Vaters gereist. Bei den ersten beiden malen war er zwei bzw. elf Jahre alt, zu
jung um viel Wissen zu erwerben. Viele „deutsche“ Indienbegeisterte wissen sehr
viel mehr über das Land als er. Aber er wird immer wieder gefragt - und wäre
auch gerne Experte.
Bei der Anwendung der Kategorie „Andere Deutsche“ ist es unwichtig, ob der oder
die so Bezeichnete tatsächlich Vorfahren aus einem anderen Kulturkreis hat.
Wichtig ist nur, dass andere Deutsche (das kleine a hier ist wichtig, denn es
geht hier um die Deutschen, die nicht „Andere Deutsche“ mit dem großen A sind)
das so sehen. Es geht um Rassismus, um die Festlegung einer Person auf ihre
unterstellte Abstammung und angenommene biologische Besonderheit. Es ist bei der
Anwendung der Kategorie auch nicht nötig, dass sich die so Bezeichneten, selber
so bezeichnen würden. Es geht hierbei nicht um eine selbstdefinierte Identität,
sondern um eine zu Forschungszwecken formulierte Kategorie, die hilfreich bei
der Analyse ist. Zudem folgt das Konzept einem politischen Anspruch:
„Wenn es Andere Deutsche auch nicht gibt, so macht es doch sozialen Sinn, dafür
einzutreten, dass die prekäre Zugehörigkeitsrealität Anderer Deutscher benannt
und performativ wiederholt wird.“ (Mecheril 2004)
Dadurch dass „Andere Deutsche“ und ihre zweifach abgesprochene Zugehörigkeit
benannt werden, werden sie nicht nur anerkannt, ihre häufig ignorierte
spezifische Situation wird auch öffentlich gemacht. Durch das wiederholte
Benennen lässt sich das Andersmachen verändern.
Der Alltag der „Anderen Deutschen“ wird sicher nicht durch ein Nachdenken über
Mecherils Konzept bestimmt. Weitgehend ist er der gleiche wie der anderer
Deutscher. Aber immer wieder gibt es diese Fragen. Fragen, die einen anders
machen. Fragen, die einen unter Druck setzen, Antworten zu geben. Fragen, die
einem klar machen, dass man keine einfachen Antworten hat. Keine Antwort zu
haben, wird einem aber als Schwäche, als Problem ausgelegt. Daher fragt mein
Begleiter nachdem ich ihm mit meinem Halbwissen, ein paar Informationen zum
roten Punkt gegeben habe, gleich weiter: „Und wie ist es mit den heiligen
Kühen?“.
PS: Wer Paul Mecheril sieht, wird aufgrund physiognomischer Merkmale annehmen,
dass seine Vorfahren aus einem anderen Kulturkreis stammen. Jene die vertraut
mit Namen aus Kerala sind, werden seinen Namen damit in Verbindung bringen. Er
kann also als „Anderer Deutscher“ bezeichnet werden. Wichtig ist dies allerdings
nur insofern, als seine eigenen Erfahrungen des Andersgemachtwerdens ihn in
seiner Forschung beeinflusst haben.
Mecheril, Paul and Thomas Teo (1994, Hrsg.), Andere Deutsche. Zur
Lebenssituation von Menschen multiethnischer und multikultureller Herkunft,
Berlin.
Mecheril, Paul and Thomas Teo (1997, Hrsg.), Psychologie und Rassismus, Hamburg.
Mecheril, Paul (2004), "Andere Deutsche gibt es nicht. Zusammenhänge zwischen
subalterner Erfahrung und diskursiver Praxis", in: AntiDiskriminierungsBüro Köln
und cyberNomads (Hrsg.), The Black Book. Deutschlands Häutungen, Frankfurt,
82-90.